Veranstaltung: | BAG Sitzung 21.-23. Februar 2020 |
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Antragsteller*in: | Daniel Hecken (KV Hamburg-Altona) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 12.02.2020, 15:09 |
A7: Eine strategische friedensgeleitete sicherheits- und verteidigungspolitische Programmatik
Antragstext
Angesichts der ungewissen Weltlage und der zukünftigen Herausforderungen braucht
es eine stärkere europäische Zusammenarbeit für Stabilität und Frieden. Wir
wollen die EU zu einer globalen Friedensakteurin machen, die ihre Sicherheit
zunehmend selbst in die Hand nimmt und stärkt. Dabei leitet uns das Konzept der
menschlichen Sicherheit, das Menschenrechte, globale Gerechtigkeit,
Konfliktprävention und Wiederaufbau ins Zentrum rückt. Zu diesem erweiterten
Sicherheitsbegriff gehört auch, dass Frauenrechte und die Lebensrealitäten von
Frauen und Mädchen stärker als bisher in den Fokus der Außen- und
Sicherheitspolitik genommen werden müssen. (Ä1) Wesentlich bleibt für uns, dass
die VN Menschen vor schwersten
Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schützen soll
und das wir im Sinne der Konfliktprävention Konzepte der Schutzverantwortung
weiterentwickeln wollen.
Unser Ziel ist eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion.
Eine
permanente und enge Zusammenarbeit der europäischen Streitkräfte ist dringend
geboten. (Ä2) Auf dem Weg dorthin wollen wir die Bundeswehr in die Lage
versetzen, einen verlässlichen Beitrag zur europäischen und globalen Sicherheit
zu leisten, zum Beispiel im Rahmen von VN-Friedensmissionen und insbesondere der
Landes- und Bündnisverteidigung. Das bedeutet, sie bestmöglich entsprechend
ihrem Auftrag auszustatten, ihre Strukturen effizienter zu gestalten. (Ä3) Die
Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, Teil unseres demokratischen Rechtsstaats
und braucht einen gut ausgebildeten und vielfältigen Personalkörper. Die
Entsendung der Bundeswehr in militärische Einsätze ist für uns unverrückbar die
Ultima Ratio der Sicherheitspolitik. Für uns gelten die VN-Charta und das
Völkerrecht. (siehe Ä2) Darum brauchen legitimierte Auslandseinsätze eine
Einbettung in ein politisches Gesamtkonzept, das Prävention und zivilen
Wiederaufbau miteinbezieht. Insgesamt ist es an der Zeit, den Sicherheitsrat
entsprechend den veränderten internationalen Beziehungen so zu reformieren, dass
eine gerechte Repräsentation der Staaten und Weltregionen in ihm abgebildet
wird. Gleichzeitig muss ein Veto in Fällen von schwersten Verbrechen gegen die
Menschlichkeit sowie Völkermord ausgeschlossen sein, um sich dem Dilemma
zwischen der Verpflichtung zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen
auf der einen Seite und der Achtung des VN-
Mandatsgebots für Militäreinsätze auf der anderen Seite zu stellen.
Um zu mehr Synergien zu kommen, setzen wir auf den (H1) Ausbau multinationaler
Einheiten sowie auf die Stärkung des gemeinsamen europäischen Hauptquartiers in
Brüssel. Es soll mehr Kompetenzen und Personal erhalten, um Auslandseinsätze
europäischer Einheiten zentral planen und durchführen zu können. (Ä4)
Europäische Cybereinheiten sollen, in Ergänzung zur Verstärkung nationaler
Fähigkeiten, mögliche Cyberangriffe, zum Beispiel auf kritische Infrastruktur,
abwehren und gegen gezielte Desinformation vorgehen können. (H2) Militärische
Parallelstrukturen und Überkapazitäten werden durch eine Umschichtung nationaler
Mittel auf die europäische Ebene abgebaut. Ein erheblicher Teil der nationalen
Verteidigungsetats der
Mitgliedstaaten kann für diese Integration der Streitkräfte auf EU-Ebene genutzt
werden. (Ä5) So kann sichergestellt werden, dass keine (zivilen) Mittel auf EU-
Ebene für militärische Zwecke umgewidmet werden. Es macht wenig Sinn, national
etwas weiterzuführen und zu finanzieren, das parallel bereits europäisch getan
wird. So kommen wir auch insgesamt zu mehr Abrüstung. Die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik ist an eine Stärkung der europäischen Ebene geknüpft, die auf
der parlamentarischen Kontrolle durch das Europäische Parlament fußt.
Nach diesen Grundsätzen soll die EU die ihr übertragenen sicherheitspolitischen
Aufgaben wie Krisenprävention, Krisenmanagement oder die Stabilisierung nach
Konflikten stetig ausbauen und sich deutlich stärker als Auftragnehmerin an
Friedensmissionen der Vereinten Nationen beteiligen, insbesondere durch
europäische multinationale Einheiten. Partner sollen sich auf die EU verlassen
können. (Ä6) Die NATO ist ein unverzichtbarer Bestandteil der europäischen
Sicherheitsarchitektur – auch wenn zunehmend divergierende sicherheitspolitische
Interessen innerhalb der Allianz offenbar werden und die NATO in ihrer jetzigen
Form nicht in Stein
gemeißelt ist. Die EU sollte sehr viel stärker auf militärische Zusammenarbeit
und
Koordinierung setzen, um als Kontinent stärker europäische strategische
Interessen – gerade auch innerhalb der NATO – vertreten zu können, wobei
Dopplungen vermieden werden sollten.
Begründung
Der Antrag entspricht dem ÄNDERUNGSVORSCHLAG ZUM ZWISCHENBERICHT, ABSCHNITT "EINE EUROPÄISCHE SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGSUNION SCHAFFEN" der im Rahmen der Beteiligung jedoch nicht genügend Unterstützer*innen fand. Hierbei stelle ich mir eine Diskussion zum nachfolgenden Rational und nicht explizit zum Wording des Antrags vor, die vermutlich die zur Verfügung stehenden 3 Stunden jedoch sprengen würde. Eine Beschränkung auf max. 60 Minuten wäre notwendig.
Im Kern geht es mir um die Diskussion im Rahmen des Prozesses für das neue Grundstzprogramm mit Bezug auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Als neues Mitglied erlebe ich hier einen "Katzenzustand", in dem sich pazifistische Vorstellungen mit denen eines realpolitischen Ansatzes derart überlagern, dass eine genaue Positionsbestimmung fast unmöglich erscheint. Diese ist aus meiner Sicht für das Grundsatzprogramm jedoch unabdingbar und muss auch für das anstehende Wahlprogrammm Gültigkeit entfalten. Dabei steht die Fokussierung auf die Mittel (z.B. Einsatz der Bundeswehr) einer notwendigen Entwicklung einer strategischen Zielsetzung in einer friedensgeleiteten Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Wege. Diese sollte hingegen Kern einer grünen Positionierung im Rahmen des Grundsatzprogramms sein und daraus abgeleitet die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf den zielgerichteten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel nicht einschränken.
Um die divergierenden Positionen zusammenführen zu können, gilt es aus meiner Sicht die Programmatik auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses, mindestens in den folgenden Punkten, zu entwickeln:
- Wir stehen zur demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und damit zu allen ihren verfassungsgemäßen Organen und Institutionen sowie deren verfassungsgemäßen Einsatzes
- Wir stehen zur bisherigen Sicherheitsarchitektur (z.B. VN, NATO, OSZE, EU, transatlantische Partnerschaft), wenngleich diese einer ganzheitlichen Reform sowie der Anpassung ihrer Einzelbestandteile bedarf
- Eine strategisch ausgerichtete Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz und verfolgt friedenspolitische Ziele
... um letztlich Deutschlands Verantwortung in Europa und der Welt gerecht werden, und „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ (Präambel Grundgesetz).
Ergänzend zum vorhergehenden Antragstext noch das Rational der Änderungen zum Text des Zwischenberichtes (Änderungen kursiv hervorgehoben):
Ä1: Streichung „Wesentlich bleibt für uns das VN-Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect)“
Seit langem wird über die „Responsibility to Protect“ (R2P) an sich, ihre völkerrechtliche Verbindlichkeit und damit letztlich über ihre Wirksamkeit diskutiert. Dabei ist diese Debatte, aus persönlicher Sicht, jedoch nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich und findet nur auf der politischen Ebene statt. Eine breite öffentliche Diskussion kann ich nicht erkennen. Zudem wurde der Begriff aus dem Weißbuch 2006 nicht in das Weißbuch 2016 übernommen und somit gänzlich der Diskussion entzogen (man könnte auch sagen, er wurde 2006 nur nachträglich zur Legitimierung des Kosovo Einsatzes eingeführt). Ohne die R2P hier im Detail zu diskutieren, kann man aus persönlicher Sicht begründet der Meinung sein, dass es innerhalb der gegenwärtigen Konstellation des VN-Sicherheitsrats „[…] keinen Konsens darüber gibt, welche Bedingungen für die Geltendmachung von R2P eintreten müssen.“ (Siddharth Mallavarapu, ”Schutzverantwortung als neues Machtinstrument”, in: APuZ 37/2013, 15 S. 3 f.)
Es ist anzunehmen, dass der Begriff der R2P potentiellen Wähler*innen nicht immer geläufig sein wird und zudem als Konzept nicht unumstritten ist. Darüber hinaus war dessen bisherige "Anwendung", z.B. Libyen, rein militärischer Natur und eine deutsche Beteiligung wurde durch uns damals abgelehnt. Wenngleich die Inhalte vollumfänglich zu unterstützen sind, bedarf es für eine wirksame Umsetzung voraussichtlich dem Willen der Grünen einem militärischen Einsatz zuzustimmen, umfangreicher Reformen der VN und insbesondere des Sicherheitsrates (so wie dies im Folgenden des Zwischenberichtes auch angesprochen wird). Ich empfehle daher, insbesondere mit Blick auf realistische Erwartungen, auf den Begriff zu verzichten. (Auch streichen auf S. 37)
Ä2: Änderung "insbesondere im Rahmen von VN-Friedensmissionen" zu "zum Beispiel im Rahmen von VN-Friedensmissionen und insbesondere der Landes- und Bündnisverteidigung"; Streichung "ein Mandat der Vereinten Nationen"
Die unmittelbare und vordringliche Verknüpfung von VN-Friedensmissionen steht im Widerspruch zu der Forderung „die EU zu einer globalen Friedensakteurin [zu] machen, die ihre Sicherheit zunehmend selbst in die Hand nimmt und stärkt“ und „[…] Auslandseinsätze europäischer Einheiten zentral planen und durchführen zu können.“ Dazu, so heißt es weiter, „brauchen Auslandseinsätze ein Mandat der Vereinten Nationen“. Zum einen blendet dies die mögliche Einladung der EU oder Deutschlands durch die Regierung eines betroffenen Landes aus. Zum anderen ist es, unter Anerkennung der vergangenen (z.B. Libyen 2011), aktuellen (z.B. Syrien, Iran) und vermutlich zukünftigen sicherheitspolitischen Entwicklungen, unwahrscheinlich, dass für Deutschland und die EU relevante Krisen, insbesondere im Bereich der Einflussspähre Russlands oder Chinas, jederzeit ein Mandat des Sicherheitsrates erteilt wird. Dies kann insbesondere im Rahmen eines Einsatzes der NATO nach Artikel 5 oder der EU Artikel 47 gelten und würde somit die Bündnisstreue unterminieren.
Darüber hinaus stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Gleichwohl taucht dies in Bezug auf die Bundeswehr im Zwischenbericht nicht auf. Dabei ist dies ihre vordringlichste Aufgabe und sie ist, wie dem Tenor des Berichtes aber auch der Presse zu entnehmen ist, dafür nicht gut aufgestellt. Aus meiner Sicht ist es auch unsere Aufgabe, dies, auch im Verbund mit unseren Verbündeten, zu ändern.
H1: Hinweis zu "Ausbau multinationaler Einheiten"
Es gilt dabei das wachsende Engagement Chinas innerhalb von VN Friedensmissionen, insbesondere in Afrika, zu beachten. Hierbei könnten sich insbesondere Widersprüche mit europäischen Interessen ergeben.
Ä3: Streichung die Bundeswehr braucht "[...] einen demokratisch verfassten, [...]" Personalkörper
Niemand wird dies in Zweifel ziehen und es ist eine Selbstverständlichkeit auf Basis des Grund- und Soldatengesetzes. Vielmehr verstärkt dieser Satz jedoch die Stimmen derjenigen, die die demokratischen Werte der Soldat*innen gefährdet sehen und einen Rechtsruck attestieren. Zugleich klingt dies wie eine Anschuldigung und grenzt so potentielle grüne Wähler*innen aus dem Kreis der Bundeswehr aus, da sich diese nicht wahrgenommen fühlen. Die Grünen sollten auch Antworten und Attraktivität für Wähler*innen innerhalb der Sicherheitsbehörden schaffen. Welchen besseren Weg gibt es, einen möglichen Rechtsruck zu verhindern? Der Teilsatz wäre daher zu streichen.
Ä4: Ausbau von Cyberfähigkeiten
Der Schutz der eigenen kritischen Infrastruktur ist eine hoheitliche Aufgabe und kann und sollte nicht auf europäische Ebenen ausgegliedert, sondern vielmehr ergänzt werden. Nach meinem Verständnis wird eine wirksame Cyberabwehr und ein Vorgehen gegen Desinformationskampagne zudem immer offensive Fähigkeiten und insbesondere deren Einsatz benötigen, so dass isch auch erhebliche rechtliche Fragen ergeben. Daher ist ein hoheitliches Handeln unabdingbar. Vielmehr steht „die teilweise wildgewachsene Behördenstruktur bei Polizei und Nachrichtendiensten“ (S.70) einer wirksamen Bekämpfung im Wege, so dass national vorrangig erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere in Qualität und Quantität, besteht.
H2 und Ä5: Umschichtung nationaler Mittel; Streichung "und nicht noch mehr Geld in den Rüstungssektor fließt"
Dies klingt nach einer weitaus stärker als bisher finanzierten strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Gleichzeitig ist mit Blick auf aktuelle europäische Fähigkeiten, oder vor allem Fähigkeitslücken (z.B. effektive und umfassende Flugkörperabwehr), bei gleichzeitiger Forderung nach mehr europäischer Stärkung und Sicherheit in eigener Hand, realistisch nicht zu erwarten, dass "nicht noch mehr Geld in den Rüstungssektor fließt."
Ä6: Änderung "Die NATO ist mittelfristig auch..." zu "Die NATO ist ..."; Streichung "Eine Alternative zur oder eine nationale Loslösung von der NATO ist derzeit unrealistisch, denn dies würde Rüstungsausgaben erfordern, die weit über den in der NATO geforderten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen."
Der Formulierung des Satzes könnte entnommen werden, dass die Grünen einem Austritt Deutschlands aus der NATO langfristig nicht negativ gegenüberstehen würden. Zudem wird ein Verbleib maßgeblich an steigenden Rüstungsausgaben im Falle eines Austritts/der Auflösung geknüpft. Dabei wird, aus persönlicher Sicht, die langfristige Bedeutung (die auch eine Kurzepisode Trump weit überdauert) der NATO für die deutsche sowie die europäische Sicherheit, und insbesondere den erworbenen und zu erhaltenen Wohlstand, verkannt. Offen und ehrlich ausgesprochen: Auch langfristig wird Europa auf ein starkes Amerika, das im Rahmen der internationalen Konventionen und des Rechts handelt, nicht verzichten können. Die NATO ist ein in erster Linie politisches Bündnis, auch wenn ihm naturgemäß das Militärische zu Gesicht steht. Daher sollte der politische Charakter betont und eine Obsoleszenz ehrlicherweise wie durch Trump nicht propagiert werden. (siehe auch Ä2)
Zudem ist eine Alternative nicht nur derzeit, sondern auch langfristig, unrealistisch und würde natürlich mehr Rüstungsausgaben erfordern. Aber was denn nun? Europa stärken, bei gleichzeitiger Reduzierung/Umwidmung nationaler Verteidigungshaushalte und der Rüstungsausgaben, aber gleichzeitig im Umkehrschluss attestieren, dass diese Ausgaben für die Sicherheit Deutschlands und Europas nicht ausreichen werden aber auf eine NATO dennoch langfristig verzichtet werden könnte? Das sind keine realistischen Erwartungen und sollten sich aus meiner Sicht in einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Programmatik so nicht wiederspiegeln.
Änderungsanträge
- Ä1 (david baltzer (LAG Frieden Berlin), Eingereicht)
Kommentare
Angelika Wilmen:
Die Langfassung des Konzepts findet ihr unter https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=192848
Daniel Hecken:
vielen Dank für deinen Kommentar. Mein Antrag stützt sich auf den Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm und versucht bestimmte Passagen aus meiner Sicht einzuordnen. Dass dabei der Eindruck entstehen könnte, es gehe weiterhin um eine militärgestützte Sicherheit innerhalb der EU und der NATO kann ich grundsätzlich verstehen, da er den von mir in der Begründung angeführten Kern meines Anliegens, einer strategischen friedensgeleiteten Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ohne Fokussierung auf die Mittel, nicht wiederspiegelt. Persönlich möchte ich keine Fürsprache für eine militärgestützte Sicherheit halten, lehne den völkerrechts- und grundgesetzkonformen Einsatz der Bundeswehr, sofern er notwendig ist, jedoch auch nicht ab.
Das von dir verlinkte Konzept, dass ich bis dato nicht kannte, stellt dabei mit Hilfe der Szenariotechnik eine positiv Entwicklung von der Gegenwart bis in das Jahr 2040 dar und entspricht ggf. der Bestandsdauer des neuen Grundsatzprogramms (auch wenn ich dies für einen zu langen Zeitraum halte). Das Grundsatzprogramm müsste demnach auch den Weg aus der heutigen Sicherheitsarchitektur (mit all ihren existierenden Elementen) in diese Zukunft beschreiben, an dessen Ende "Deutschland [...] in diesem Szenario im Jahr 2040 durch seine fortbestehende Mitgliedschaft in der NATO und in der EU weiterhin auch in deren militärische Strukturen eingebettet [ist]." (S. 27)
Doch auch dem Konzept "steht die Fokussierung auf die Mittel (z.B. Einsatz der Bundeswehr) einer notwendigen Entwicklung einer strategischen Zielsetzung in einer friedensgeleiteten Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Wege" (Zitat aus meiner Begründung) und führt zudem zu Widersprüchen. Wenn die Gestaltung dieser Politik zur Vision hat, den Frieden und Wohlstand in internationaler Kooperation friedenswilliger Staaten nachhaltig zu sichern, dann wären zuerst die Teilziele mit ihren dann einzelnen vorher zu erfüllenden Bedingungen und der letztlich dazu notwendigen Maßnahmen zu beschreiben. Doch sowohl der Zwischenbericht als auch das verlinkte Konzept fokussieren sich, mit dem stets angeführten Leit- und Kernmotiv der Auflösung (hier Konversion) der Bundeswehr, auf zu treffende Maßnahmen und zäumen das Pferd von hinten auf.
Auch wenn ich in diesem Punkt nun etwas abschweife, zeigt sich dieser Mangel an Strategiefähigkeit deutscher Politik unter anderem in den zu Recht kritisierten (teils erfolglosen) Einsätzen, in denen eben mit den zur Verfügung stehenden Mitteln versucht wird, Symptome zu behandeln ohne eine langfristige Strategie. Ein pazifistisches Leitmotiv mit der Forderung der Abschaffung/Konversion der Bundeswehr als Kernmerkmal greift hier jedoch ebenso zu kurz, wie die im Zwischenbericht reine Darstellung wünschenswerter deutscher, europäischer und internationaler Sicherheitsarchitektur.
Wie das Konzept beschreibt, geht eine Entwicklung in die aufgezeigte Zukunft immer von den Interessen und den Handlungen der Nationalstaaten aus, da deren Existenz weiterhin angenommen wird. Dass sich deren friedenspolitischen Motive über die eigenen Grenzen hinaus erstrecken müssen ist Kern einer Außenpolitik, unterliegt jedoch immer dem Vorbehalt nationaler Interessen so lange Nationalstaaten existieren. Dabei sollten u.a. die Interessen und anzunehmenden Motive mindestens der Mächte Russland (dessen Bereitschaft zur Integration der Wirtschaftsräume im Konzept pauschal unterstellt wird) sowie der USA und China (die im Konzept als Keyplayer überhaupt keine Rolle spielen) nicht unberücksichtigt bleiben. Die im Konzept angeführte Reduzierung der Komplexität erweist sich, erst Recht mit Blick auf die zu etablierenden regionalen Sicherheitsräte, insbesondere in diesem Punkt als erheblicher Mangel.
Darüber hinaus macht es sich das Konzept in einem Kernpunkt ziemlich leicht, nämlich in der Behandlung eines möglicherweise existierenden gewaltsamen/kriegerischen Konflikts, ohne konkrete Antworten zu liefern. Das Konzept umgeht aus meiner Sicht die kritischen Knackpunkte und bezieht gegenüber angenommenen Befürwortern einer militärisch geprägten Sicherheitspolitik ebenso extrem Stellung. Dabei wird die Position ‚Konflikte können nur gewaltsam gelöst werden‘ (unter Außerachtlassung, dass auch heute zivile Krisenprävention ein Element deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist) in das extreme Gegenteil verkehrt ‚Konflikte können nur gewaltlos verhindert werden‘. „Sollten diese [gewaltfreien] Mechanismen nach Beschluss der Kontinental-Sicherheitsräte nicht greifen, werden UN-Polizei- und -Peacekeeping-Kräfte eingesetzt. Deren Missionen sind den Menschenrechten und dem Schutz von Menschenleben verpflichtet und deren Mitarbeiter*innen sind für die zivile unbewaffnete Friedenssicherung in den Instrumenten und Methoden der Zivilen Konfliktbearbeitung ausgebildet.“ (S. 14) Inwiefern „Neutrale, am Völkerrecht und an Polizeiaufgaben orientierte Polizeitruppen unter dem Kommando der jeweiligen regionalen UN-Sicherheitsräte […] in allen Fällen zwischenstaatlicher Konflikte und bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit [also auch beim Einsatz distanzfähiger kriegerischer Mittel durch die Konfliktparteien wie beispielsweise in Syrien] zum Schutz der unmittelbar betroffenen Menschen eingesetzt werden“ (S. 71) sollen und wie viele Kräfte, die sich und andere auf Abstand nicht verteidigen können, überhaupt notwendig wären, zeigt das Konzept nicht auf.
Abschließend würde eine Ausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne des Konzeptes die Fähigkeit zur weltweiten strategischen Vorausschau zur Erkennung von Konfliktpotenzialen bedingen und ein außergewöhnlich hohes und weltweites außenpolitisches Engagement Deutschlands im Vergleich zu heute bedeuten. Dies sollte dabei nicht vergessen werden.
Zusammenfassend zeigt diese Diskussion die von mir angenommene Divergenz in den Positionen, die es aus meiner Sicht mit strategischem Blick in der Grundsatzdebatte mit ihren Schnittpunkten zu vereinigen gilt.
Angelika Wilmen:
toll, dass Du das Konzept gelesen hast. Ja, "Sicherheit neu denken" hat noch inhaltliche Lücken, die im Rahmen einer Bildungskampagne weiter gefüllt werden sollen. Dennoch bietet das Konzept Anknüpfungspunkte für die Grünen, finde ich.
Für unser Grundsatzprogramm wichtig, fände ich beispielsweise die Forderung einer konsequenten Umschichtung von Mitteln aus dem Verteidigungshaushalt in den Haushalt des Auswärtigen Amtes.
Forderungen aus dem Konzept, den wir uns anschließen könnten, wären beispielsweise
- Aufstockung des Etats für zivile Krisenpräventions- und -interventionskräfte der OSZE
- Aufstockung der Polizist*innen und zivilen Friedensfachkräfte zu internationalen UNO-Friedensmissionen
- Flächendeckende Fort- und Ausbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in konstruktiver Konfliktbearbeitung und reflexivem Konfliktverständnis.
- Verstärkte Sozialarbeit verhindert die Ausbreitung von Feindbildern und die Diffamierung von Fremden.
- Einrichtung von Mediationszentren für potentiell gewaltsame inter- und intragesellschaftliche Konflikte
- Und was ich persönlich wichtig finde: Den Mythos der Wirksamkeit von Gewalt überwinden.
Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Wirksamkeit von Militäreinsätzen im Ausland zur Erreichung politischer Ziele sehr gering ist. Erst kürzlich berichtete die Washingtonpost in den sogenannten "Afghanistan Papers", dass die US-Regierung und des Militär die Öffentlichtkeit jahrelang angelogen haben, um den kostspieligen und blutigen Krieg in Afghanistan zu rechtfertigen.
Weitere Informationen zu den wissenschaftlichen Untersuchungen unter https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=234072
Viele Grüße, Angelika
Juliana Wimmer:
in der BAG sprechen wir schon seit einiger Zeit über diese Themen. Auf unserer letzten Sitzung haben wir dazu dieses Papier verabschiedet: https://gruene-frieden.de/userspace/BV/bag_frieden/Dokumente/Beschluesse/1909_Unsere_gruene_Friedens-_und_Aussenpolitik_-_Antrag_BAG_Frieden_beschlossen.pdf
Beste Grüße
Juliana
Sava Stomporowski:
ich denke, dass wir uns mit einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur im Rahmen der KSZE schwerpunktmäßig befassen sollten und nicht mit solchen Anträgen.
Unsere Sicherheitsarchitektur sollte eine defensive, rein verteidigungspolitische Ausrichtung bekommen, in der auch die europäischen Staaten eingeschlossen werden, die bislang am Katzentisch sitzen - mehr nicht.
Was wir im Windschatten der verantwortungslosen Konflikteskalation unseres transatlantischen Partners mitbekommen, brauchen wir nicht durch eine EU-Armee zu ersetzen oder versuchen, diese in Form einer Mini-Nato nachzuahmen.
Überhaupt finde ich diese Dauerschleifen eines naiven Pazifismus ermüdend und als Zeichen von Ignoranz gegenüber den Opfern und potentiellen Gefahren eines vermeintlichen Realismus', der seit Anbruch des neuen Milleniums zu einer Explosion von Kriegen und Opfern geführt hat. Wie kann man sich dabei auch noch überlegen fühlen und so etwas auch noch in eine grünen Antrag als Zeichen einer "richtigen" Haltung einfließen lassen kann, ist mir unverständlich.
Die heutigen Schlagzeilen über Interessenkonflikte sind i.d.R. die Kriege von morgen. Es gibt schlicht keine Kriege, die plötzlich, willkürlich und ohne Voranbahnung "ausbrechen". Nein, das gehört zu den Ammenmärchen von Herrschaftsinteressen. Auch ein uns willkürlich erscheinender Erdogan hat mehrfach seinen Widerstand zu bestimmten Entwicklungen in Syrien geäußert und sie dann nach mehrfachen Konsultationen und Reisen in die USA oder nach Deutschland militärisch durchgesetzt. Diese Handlungen werden nicht nur verschämt gebilligt, sondern durch Hilfsgelder protegiert.
Nein, Kriege sind gemacht und Gegenstand von Interessen - kurz geopolitischen Auseinandersetzungen.
Wenn wir einen Krieg mit China verhindern wollen, müssten wir jetzt schon versuchen, am Verhandlungstisch ein faires Handels- und Wirtschaftssystem zu installieren. Dabei wird es wahrscheinlich nicht den einen großen Krieg geben, sondern entlang der chinesischen Handelsrouten Krisen aufbrechen, vielleicht auch in einigen Provinzen selbst Unruhen ausbrechen - alles nach bekannten Mustern von Farbrevolutionen und CIA-Handbüchern. Und wir sollten uns hüten, dabei die Verteidigung von Menschenrechten als Vorwand zu nehmen, auch wenn es da ganz bestimmt Bedarf an Entwicklung von Menschenrechten gibt. Nicht aber militärisch oder verdeckter Geheimoperationen.
Dass es solche Geheimoperationen gibt, sie von der USA sogar nach etlichen Jahren bekannt werden, ist dadurch 1. kein Geheimnis, wie beispielsweise der Iran-Putsch 1953, der den Schah an die Macht hievte, und 2. eine Aufforderung, dass wir uns mit diesen Mitteln von Politik befassen sollten, um präventive Maßnahmen und deeskalierend Handeln zu können.
Kriege haben höchstens Sieger und Besiegte produziert, meist aber kaum die Ursachen von Problemen bewältigt. Selbst wenn man gut und gerne behaupten kann, dass der NS-Staat erfolgreich besiegt wurde, haben die Nachwirkungen des II. Weltkrieges uns einen langen Kalten Krieg eingebracht. Nach einer kurzen Phase der Entspannung stehen wir jedoch wieder vor zahlreichen ungelösten Problemen der Sicherheitsarchitektur. Die heutige Ost-West-Konfrontation ist ein bisschen weiter gen Osten gerutscht aber es stehen sich wieder Ost und West gegenüber.
Und eine Anmerkung zu R2P:
Eine R2P aufgrund von Schutzberechtigten, wie Frauen oder oft gegenüber Minderheiten, muss kritisch hinterfragt und aufgrund seiner Schwächen zumindest weiterzuentwickelt, wenn nicht gar verworfen werden.
R2P kann nicht polizeilich agieren und Angriffe verhindern, sondern erst in Kraft gesetzt werden, wenn etwas passiert. Allein dieses Prozedere ist ein Akt (selbst wenn man ihn verkürzen würde auf eine Gruppe gleichgesinnt Handelnder, wie zurzeit angestrebt), der eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Sollte es einen hypothetischen Fall geben, wäre da viel Blut vergossen.
So ein hypothetischer Fall wäre heute der Schutz der Kurden. Nur redet keiner von R2P!
Na, warum? Weil R2P nur in bestimmten Fällen angewendet wird.
Besonders anfällig ist das R2P durch False-Flag oder schlicht durch Lügen, wie uns das Beispiel Libyen mit der Viagra-Lüge und den angeblichen Massenvergewaltigungen gezeigt hat - propagiert u.a. von international höchst Angesehenen Akteuren, wie Hillary Clinton.
Danach stützt ein Land in einen unendlichen Krieg, der durch Regionalkräfte und Waffenlieferanten befeuert wird. Dass besonders Libyen ein Beispiel ist, in dem die EU-Staaten keine gute Rolle gespielt haben, sollte auch bekannt sein.
Mal abgesehen davon, dass eine EU-Armee eine gemeinsame außenpolitische Linie bräuchte, die ich nirgends erkennen kann, stehen sogar zwei EU-Staaten heute mit ihren Interessen auf unterschiedlichen Seiten (Italien und Frankreich).
Das sind alles sehr reale Blicke auf die Auswirken von angeblicher Realpolitik. Es geht um Interessen, die gegenüber dem anderen durchgesetzt werden sollen. Wir sollten dem nicht blind hinterherlaufen, sondern bessere Vorschläge machen.